Zwei Ereignisse während der letzten Tagen haben mich sehr nachdenklich gestimmt; ich war auf einer Romería und ich habe ein Buch über globale Amnesie gelesen.
Das, mehrere Tage dauernde, Fest wurde mit kirchlichen Segnungen, Musik, Tanz und Gesang, farbenfroh und fröhlich begangen. Die Prozessionen mit geschmückten Wagen, gezogen von prächtig herausgeputzten Ochsen und begleitet von fröhlichen Menschen in historischen, aber noch immer aktuellen Gewändern, ist, wie ein Abtauchen in eine andere Welt. Ich finde, man sollte es ganz einfach einmal gesehen haben. Man sollte sich einmal, ausgestattet mit original canarischer Tracht, der Prozession anschließen, die freundlich dargebotenen Früchte, die Kartoffeln und die Süßigkeiten probieren und den in Strömen fließenden canarischen Landwein verkosten. Einzutauchen in die canarische Fröhlichkeit und Teil des Ganzen zu sein ist ein umwerfend schönes Gefühl.
Nun sind Sie, verehrter Leser, vielleicht der Meinung, dass ich im Verlauf der Romería vielleicht doch zu tief in das eine oder andere Glas geschaut habe und dank des Alkohols mein Gedächtnis verloren habe, aber ganz so arg war es doch nicht. Nein, ich habe ein Buch einer meiner Lieblingsautoren, gelesen, das sich mit globaler Amnesie beschäftigt. Bei dieser Art von Amnesie verfügen die Betroffenen nach wie vor über alle ihre geistigen Fähigkeiten, können sich jedoch weder an ihren Namen, ihre Herkunft noch ihre berufliche Tätigkeit erinnern. Der Autor lässt seine Hauptfigur in einer dunklen, kalten Toilette, angetan mit stinkenden Pennerklamotten aufwachen, ohne einen Centimo in der Tasche und ohne Erinnerung an seine Persönlichkeit.
Und wie ich da so, umgeben von fröhlich lachenden Menschen, bekleidet mit einer mir fremden Tracht, mitwanderte in der Prozession, kam mir der Gedanke „was wäre wenn“. Was wäre, wenn ich jetzt mein Gedächtnis verloren hätte und nicht mehr wüsste wer ich bin. Hier würde es niemanden geben, so wie in dem Buch, der mich kennt, der ganz einfach sagt „qué tal, Irene“, oder, wie viele sagen „hallo, Gräfin“. Wie würde ich versuchen das Puzzlespiel meiner Identität zusammen zu setzen?
Ken Follett, der Autor des von mir gelesenen Buchen, lässt seine Hauptfigur ganz behutsam einen Teil seines ICH´s finden. Er trinkt ein ihm angebotenes Bier und stellt fest, dass er kein Alkoholiker sein kann, weil er den Geschmack in frühen Morgenstunden abscheulich findet. Er trinkt einen gesüßten und mit Milch versehenen Kaffee und findet ihn grauslich; also wird er normalerweise wahrscheinlich schwarzen, ungesüßten Kaffee trinken. Bis hier her kann ich mir ja noch vorstellen, dass es nicht wirklich schwierig ist, so etwas herauszufinden. In dem Roman ist die Hauptfigur ein Mann, der Raketentechik studiert hat und an einem Satelitenprogramm arbeitet. Er entstammt einer gehobenen Gesellschaftsschicht und sammelt Stückchen für Stückchen seiner Vergangenheit zusammen.
Und spätestens hier stellte sich mir die Frage – „was kann ich denn? mit welchen Vorzügen kann ich denn aufwarten? wer bin ich denn wirklich, ohne Vergangenheit?“
Das eigene ICH auf die Jetztzeit zu beschränken ist manchmal recht heilsam. Es ist, wie in einen Spiegel zu schauen der die pure Realität zeigt und nicht die geschminkte, mühsam aufpolierte Fassade. Viele von uns zehren von Lorbeeren aus längst vergangener Zeit und Aussagen wie „mein Vater war Generaldirektor; mein Mann war Produktionsleiter mit 240 Untergebenen; ich hatte mal 5 Häuser; ich war 19irgendwann Klassenbester; usw.“ Das ist absolut Schnee von gestern. Wer sind wir jetzt? Sind wir die liebenswerte Nachbarin, oder sind wir was Besseres, weil wir doch früher in einer Villa gewohnt haben? Sind wir hilfsbereite Mitmenschen, oder rümpfen wir die Nase über Menschen, die vielleicht das eine oder andere nicht genau wissen? Müssen wir unbedingt betonen, das wir Oberschullehrer, Apotheker, Börsenmaklerin oder Journalistin sind oder waren?
Die Romería war ein bezauberndes Fest und nach ein paar nachdenklichen Minuten war ich sehr froh meinen Mann, bekleidet mit prächtig gesticktem Wämslein und canarischen Spitzenhöschen neben unseren Freunden, die uns begleiteten, zu sehen. Die Menschen um uns herum prosteten uns zu, sahen ein befreundetes Ehepaar das, angepasst an die canarische Tradition, an dem Fest teilnahm und eigentlich recht nett sind, und keiner fragte uns was wir sind oder mal waren und wie hoch unser Bankkonto ist. JETZT waren wir ein Teil des Ganzen.
Und trotzdem, ich bin froh zu wissen wer ich bin, dass ich eine Vergangenheit habe und nicht wie im Roman meine Identität erst wieder finden muss. Aber manchmal sollte man sich schon recht kritisch in den Spiegel schauen um zu sehen welches Bild man anderen Menschen zeigt.
Das meint Eure Wienerin
Irene-Christine Graf
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Keine Ankündigung bisher.
Amnesie
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Erstellt von:
Die Wienerin
- Veröffentlicht: 20.09.2007, 09:50
- 2 Kommentare
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die dinge, die man in seinem leben tut - die bildung, die man sich aneignet - die erfahrungen, die man macht - all das prägt uns und macht uns zu dem, was wir sind.
ich habe es nie verstanden, wenn sich gerade frauen mit den titeln ihrer ehepartner ( grüß gott, frau geheimrat ... ) anreden lassen. oder wie erwachsene den spross einer bekannten familie mit größerem respekt behandeln, weil der großvater, oder vater mal was war. hallo, was kann der knabe dafür - mal abgesehen von dem esoterischen ansatz "wir suchen uns die familie aus, in die wir hineingeboren werden". genauso gut lehne ich es auch ab, kinder für die verfehlungen ihrer eltern zu verurteilen. aber das ist noch ein anderes thema.
was oder wer bin ich? ich glaube, ich bin in der glücklichen situation, ziemlich genau zu wissen wer ich bin und was mich ausmacht, was ich kann und wo meine schwächen sind. aber nicht jeder hat in der heutigen zeit die gelegenheit, in ruhe sich selbst zu reflektieren.
wir stolpern durch die schule, entscheiden uns für eine ausbildung und leben das leben, was dahinter auf uns wartet. wenn nichts dazwischen kommt, kommen wir auch nicht an einen punkt, diesen weg zu überdenken. und je weniger man zweifelt und neu überdenkt, desto weniger findet man zu sich selbst.
glücklich sind die ahnungslosen, die keinen grund haben, an sich zu zweifeln, aber die erleben wohl auch nicht das glück, das man in dem moment spührt, wenn man eine neue tür aufstößt und den mut hat, eine andere dafür zu schließen. es ist doch die veränderung, die uns wachsen lässt.
wenn ich mich an nichts von dem erinnern könnte, was mich bis zu diesem punkt geformt hat, bleibe ich doch emotional und intellektuell der gleiche mensch, auch wenn ich nicht mehr weiß, wie ich es geworden bin. es ist schwer sich auszumalen, wie das wäre, aber das leben würde auch dann weiter gehen.
Wer ich bin, was ich bin weiss ich, und ich bin gluecklich auf den "Glueckseligen Inseln" zu leben.